Mittwoch, 22. Juni 2011

Machtwahn

Heutzutage gilt es als stark, Schwäche zu zeigen. Man lernt es in der Psychotherapie: "Zeigen Sie doch mal Schwäche!" Frauen stehen auf Männer, die Tränen zeigen. Zeitschriften raten, wie erleichtert man doch sei, wenn man mit Nahestehenden offen über seine Probleme spricht. Denn Schwäche sei nicht (mehr) verpönt, stelle keinen Fleck auf der weißen Weste des nach Wunsch erzogenen westlichen Weltkarrieristen mehr dar. Nein, es sei sogar schick, auch mal Träger des besonderen I-Tüpfelchens zu werden, das einem doch, so sagt man, vielmehr Achtung oder zumindest konstruktive Kritik einbringe.

Was anscheinend keiner begreift: Darum geht es gar nicht. Es geht nicht um das hohe Ross, von dem man steigen muss, wenn man offen Schwäche bekundet. Es geht auch nicht um die Angst vor dem Mitleid, das doch heutzutage bei einem Unvollkommenheitsgeständnis niemand mehr erwarten müsse. So viel und oft man auch über die ach-so-positiven Reaktionen auf ein solches spricht - nie wird man diejenige Regung aus der menschlichen Natur heraustreiben können, die notwendigerweise, oft unmerklich zwar, manchmal aber in starker Ausprägung, auftritt, wenn jemand so offensichtlich preisgibt, dass er nicht stets dem autonomen Willen seiner selbst unterliegt, nicht stets und überall die Vernunft im Hause Ich walten lassen kann. Die Aussicht, jemand anderen zu beherrschen, dem irgendwo der Wille fehlt, zumindest partiell willentlich über ihm zu stehen, ist so verlockend, dass ihr keiner widerstehen kann. Natürlich will der Mensch dem Hilfebedürftigen nur helfen - um nach erfolgter Hilfeleistung die Grenzen der Übernahmefähigkeit auszutesten und schleichend die Autonomie des anderen zu untergraben, bis aus dem starken Schwächekundschafter ein im Sumpf der Selbstzweifel staksender Schwächling geworden ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen